Aussteigerbuch

„Heidi Benneckenstein: Ein deutsches Mädchen, mein Leben in einer Neonazi-Familie“ (2017, Tropen Verlag)

Ein sehr informatives, mutiges und lebendig geschriebenes Aussteigerbuch, das einen tief berührt. Es enthält viele Informationen über die deutsche Neonazi Szene und zeigt, wie heute Neonazis in Deutschland herangezogen werden.

Benneckensteins Vater ist überzeugter Neonazi und Anhänger der Heimattreuen Deutschen Jugend, sowie Aktivist noch anderer Nazi-Vereine und -Projekte. Heidi wird 1992 in einem kleinen Dorf in der Nähe von München geboren. Bereits im Vorschulalter veranlassten ihre Eltern, dass sie bei den braunen Zeltlagern der Heimatreuen Deutschen Jugend (HDJ) teilnahm. Die HDJ wurde 2009 aufgrund ihrer >Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus, insbesondere mit der früheren Hitler-Jugend< verboten. Es hieß, „sie sei der >Blut-und-Boden-Ideologie der Rassenlehre der Nationalsozialisten< verhaftet und verbreite >antisemitische Thesen< – eine Einschätzung die ich voll bestätigen kann“, so Benneckenstein (S. 58).

Benneckenstein beschreibt sehr anschaulich, wie es in diesen Lagern zuging. Auf den ersten Blick wirkten sie wie Pfandfinderlager, aber bei genauerem Hinsehen erinnerten sie extrem stark an die Lager der Hitlerjugend.

Die Eltern der HDJ Kinder kamen aus der oberen Bildungs- und Einkommensschicht, einem Haufen fanatischer Erwachsener. Es herrschten militärischer Drill, Härte und Disziplin, ein Klima der Angst und Unterdrückung. Die Zelte hießen „Führerbunker“ oder „Germania“. Schon am Eingang prangte ein Holzschild mit der Aufschrift „Der Heimat und dem Volke treu“. Bei den Läufen durch das Gelände sangen sie verbotene Lieder und abends am Lagerfeuer gab es Vorträge über Rassenkunde, Nazipropagandafilme und NS Literatur. Mit dieser Mischung sollten die Kinder ideologisch geschult und manipuliert und „ systematisch zu einer braunen Elite herangezüchtet werden, die am Tag der Machtübernahme das Führungspersonal des Vierten Reiches stellen sollte.“ (S.58/59)

Sportliche Aktivitäten waren kein zweckfreies Spiel, sondern reiner Drill, sie sollten wie damals in der Hitlerjugend dazu betragen „die Volksgemeinschaft und die Rasse zu stärken. Der Körper wurde ….als Kriegs- und Revolutionsinstrument gesehen“.

„Die Gehirnwäsche war unterschwellig, aber nachhaltig und gründlich. Wir sollten zu politisch denkenden Soldaten erzogen werden, zu intellektuellen Feinden der Multikulti-Gesellschaft, der Europäischen Union und der Bundesrepublik Deutschland. … Gegen Multikulti versuchte die HDJ mit Gemeinschaft und Familie vorzugehen. Ihre Mitglieder sollten unter sich bleiben, sich gegenseitig ehelichen, so viele Kinder wie möglich zeugen und generationenübergreifende Gemeinschaften bilden. Das Lebensbundkonzept sollte verhindern, dass Mitglieder nach Familiengründung der rechten Szene verlorengingen, und sicherstellen, dass die nächste Generation im Sinne der deutschen Volksgemeinschaft erzogen wurde. Der Plan ging auf. Die Ausstiegsquote unter HDJ-Mitgliedern tendierte gegen Null. Viele von ihnen leben in Wohn- und Siedlungsgemeinschaften im ländlichen Raum und versuchen, ganze Landstriche unter ihren Einfluss und ihre Kontrolle zu bringen. …“ (S.61-64)

„Was für Typen das waren, die uns das Leben [in den HDJ-Zeltlagern] schwer machten, zeigt ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 2010, also ein Jahr nach dem Verbot der HDJ. Damals wurden zwei HDJ-Kader wegen Volksverhetzung und Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen zu zwölf bzw. 17 Monaten Gefängnis verurteilt. Einer von beiden zeigte sich während der Verhandlung alles andere als einsichtig. Laut Anklage behauptete er, dass Schwarze den geringsten Intelligenzquotienten hätten, bezeichnete Juden als >langnasige Freunde< und warnte vor dem >Volkstod durch Erbkranke<.“ (S.70-71)

Interessant sind auch Benneckensteins Hinweise darauf, wie die Heimattreue Deutsche Jugend als offensichtlicher „Zulieferer“ für andere legale rechte Organisationen diente, vor allem auch für die in den Parlamenten vertretene NPD, AfD oder der Kameradschaftsszene:

HDJ-Mitglieder, die mit Benneckenstein an HDJ-Lagern teilgenommen hatten, sind zum Beispiel Tino Müller, der jahrelang für die NPD im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern saß, wo er unter anderem gegen >Negerbanden< agitierte, David Petereit ebenfalls NPD-Landtagsabgeordneter und Herausgeber des Neonazi-Magazins „Der weiße Wolf“, Jörg Hähnel, ehemaliger Bundesvorstand der NPD und bekannter rechter Liedermacher und Alf Börm, dessen Vater bis 1994 die Wiking-Jugend geleitet hatte. Börm stieg in der HDJ bis zum Unterführer auf und ließ bei einer Sonnenwendfeier ein Propagandalied der Hitlerjugend anstimmen. Auch der AfD Vorsitzende von Brandenburg Andreas Kalbitz nahm nachweislich 1993 und 2007 an einem Pfingstlager der HDJ teil.

„Es sind diese Männer, die die rechte Szene in Deutschland am Leben halten. Sie engagieren sich in Parteien oder Kameradschaften, kaufen Bauernhöfe, von denen sie als Öko-Bauern und Tierschützer getarnt Proteste gegen Asylunterkünfte organisieren oder als völkische Siedler versuchen, ländliche Regionen nach und nach zu besetzen.“ (S.72-73) Zusammenfassend lässt sich sagen: Ziel der HDJ und ähnlicher Organisationen ist es, gewaltbereite Menschen heranzuziehen, die die Demokratie zerstören und eine neue Form von Nazi-Diktatur errichten sollen. Und mit dem Verbot der HDJ wurde zwar ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung getan, aber das Problem leider nicht aus der Welt geschafft, wie man heute u.a. an der AfD, den Pegida-und Naziaufmärschen sieht. Benneckenstein schreibt: „Wenn ich heute Bilder von Naziaufmärschen oder Pegida-Spaziergängern in den Nachrichten sehe, erkenne ich Gesichter aus meiner Kindheit wieder, dumpfe Gestalten mit Transparenten und Fahnen, mit denen ich am Lagerfeuer gesessen habe…“ Und: „Als die Heimattreue Deutsche Jugend 2009 offiziell verboten wurde, dauerte es nur ein paar Monate, bis ehemalige Mitglieder verkündeten: >Unsere Kinder werden weiterhin in den Familien national erzogen und dementsprechend ganz privat und intensiv geschult<.“

„Und so gibt es auch sieben Jahre nach dem Ende der HDJ noch nationalsozialistische Kinder- und Jugendlager. Sie heißen anders und werden von anderen Organisationen ausgerichtet, die Ideologie ist dieselbe. Im Jahr 2009 gründeten die Jungen Nationaldemokraten die Interessengemeinschaft Fahrten und Lager und bieten seitdem Ausflüge und Zeltlager für Kinder an, um unter dem Deckmantel von folkloristischen Brauchtumsfeiern soldatische Ideale weiterzugeben.

Eine andere fragwürdige Vereinigung ist der Deutsche Jugendbund Sturmvogel . Zwar erkent das Innenministerium >keine hinreichend gewichtigen Erkenntnisse für rechtsextremistische Bestrebungen<, dafür lässt das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum in Berlin keine Zweifel aufkommen: Der Sturmvogel sei eine >extrem rechte Jugendorganisation<, die Jugendlichen >völkische und antidemokratisch-elitäre Elemente der deutschen Jugendbewegung und anderer Organisationen aus den 1920er Jahren< vermittle. Eine weitere gefährliche  Organisation trägt den Namen Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung. Der völkisch-neuheidnische Verein hat laut Wikipedia ungefähr 150 Mitglieder und wurde von 1989 bis 2009 von dem bekannten Neonazi Jürgen Rieger geleitet, dem Hauptorganisator des Rudolf-Heß-Gedenkmarsches. Im Glaubensbekenntnis der Artgemeinschaft heißt es: >Kampf ist Teil des Lebens; er ist naturnotwendig für alles Werden, Sein und Vergehen. Jeder einzelne von uns wie unsere gesamte Art steht in diesem Ringen. Wir bekennen uns zu diesem nie endenden Lebenskampf.<

Niemand sollte glauben, dass eine Ideologie wie der völkische Nationalismus ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen ist. Im Gegenteil, viel wahrscheinlicher ist, dass es in Deutschland immer noch mehrere Tausend Kinder gibt, die in Familien aufwachsen, die sich dem nationalsozialistischen Erbe verpflichtet fühlen. Kinder, die selbstverständlich mit Waffen, Gewalt, Nazi-Devotionalien und Liedern der Hitlerjugend aufwachsen und so zum Teil einer Kampfgemeinschaft werden, die sich hinter einer bürgerlichen Fassade versteckt. Sie tragen nordische Namen wie Reinhild oder Kriemhild, Thor oder Siegfried.

Eine der prominentesten dieser Nazi-Familien ist der Narath-Clan um den bekannten Rechtsanwalt Wolfram Nahrath, der bis 1994 Vorsitzender der Wiking-Jugend war und beim NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München Ralf Wohlleben vertritt. Nahrath hatte 2006 bereits den Sänger der Skindhead-Band Race War sowie 2015 die mehrfach verurteilte Holocaustleugnerin Sylvia Stolz verteidigt. Damit steht er in bester Tradition seines Vaters Wolfgang und seines Großvaters Raoul Narath, die ebenfalls Vorsitzende der Wiking-Jugend und führende Köpfe der rechten Bewegung gewesen waren. … Die rechtsradikale Szene in Deutschland ist nicht groß, aber straff organisiert und perfekt vernetzt. Jeder kennt jeden. Und vom scheinbar harmlosen Zeltlager bis zu den Greueltaten des Nationalsozialistischen Untergrund sind es nur ein paar Schritte.“ (S. 77-79)

geschrieben von Angelika, einer Frankfurter Oma

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